Über Barbara


Die vergessene Barbara

von Ute Semkat (2008)

Über Kunst im öffentlichen Raum wird mitunter leidenschaftlich gestritten. Doch steht das Kunstwerk erst einmal ein paar Jahre, hat es sich seinen Platz erobert und ist zum Teil des Stadtraums geworden, wird es von den nachgeborenen Generationen kaum noch als ein Einzelnes wahrgenommen. Bis es vielleicht verschwindet. Dann beginnt manchmal jemand, Fragen zu stellen. Das wurde zum Glücksfall für eine Mutter-Kind-Plastik im Magdeburger Stadtsüden.
Sie ist kopflos, und das wohl schon seit mehr als drei Jahrzehnten. Genau weiß es keiner. Aber Ines Sachsenweger erinnert sich, dass Mutter und Kind noch ihre steinernen Häupter trugen, als sie selbst als kleines Mädchen in den 60er Jahren auf den Straßen der Gartenstadt hinter der Leipziger Chaussee spielte. Von anderen Anwohnern wurde die Kalksteinplastik noch 1974 unbeschädigt wahrgenommen. Heilige Barbara oder einfach nur „Barbara-Denkmal“ wurde sie von den älteren Nachbarn genannt.
Ihre Entstehung ist Teil der Geschichte der Wohnsiedlung, die der „Bauverein der Grusonwerk-Beamten“ vor einem Jahrhundert für das höhere technische und kaufmännische Personal des Krupp-Gruson-Werks in Magdeburg-Buckau, später SKET, errichten ließ. Zuletzt, Anfang der 1920er Jahre, wurde der Platz am Ausgang der Louis-Braille-Straße bebaut, die damals noch – aha! - Barbarastraße hieß. Alle drei Straßen der kleinen Werkssiedlung trugen bis Kriegsende die Vornamen von Alfred Krupp und seinen Töchtern Berta und Barbara. Frühestens 1922, vielleicht auch ein paar Jahre später, könnte das einschließlich Sockel etwa zwei Meter hohe Kunstwerk aufgestellt worden sein. Eines der wenigen noch existierenden Fotos aus dem Jahr 1928 zeigt die Steinfiguren, ein knieendes Kind und die Mutter, die ihm mit liebevoll behütender Geste eine Hand auf die Schulter legt..

Das Geheimnis der Steinfigur

Die historisch bedeutsame Siedlung im Stil der klassischen Gartenstadtarchitektur und ihrer englischen Vorbilder wird seit einigen Jahren liebevoll saniert. Da müsse man doch endlich auch ihrem einzigen noch vorhandenen Werk der bildenden Kunst wieder zur Vollständigkeit verhelfen, sagte sich das Ehepaar Sachsenweger jedes Mal, wenn es an dem schon fast unter einer Eibe verschwundenen moosgrünen Torso vorbei ging. Doch was wusste man eigentlich von der Plastik, deren mutwillige Zerstörung kaum jemand zu stören schien? Inzwischen haben die Steinfiguren die meisten Menschen, die bei ihrer Aufstellung dabei waren, überlebt. In den Sockel hatte ihr Schöpfer Rudolf Bosselt seinen Namen gemeißelt. Da „klingelt“ es bei Magdeburgern Kunstfreunden. Bosselt war von 1911 bis 1924 Direktor der Magdeburger Kunstgewerbe- und Handwerkerschule, von ihm stammte der zerstörte hölzerne Roland vor dem Magdeburger Rathaus. Die Stadt hatte Bosselt, Mitbegründer der Darmstädter Künstlerkolonie, an die Elbe geholt, um „das etwas eingeschlafene Kunstleben Magdeburgs“ zu beleben, wie das Kunstgewerbeblatt 1911 mitteilte. Doch zehn Jahre später hatten sich die Auffassungen über moderne Kunst und Formensprache gewandelt, Protagonisten der verschiedenen Stilrichtungen stritten miteinander. Nachdem 1921 Bruno Taut, Vertreter des „Neuen Bauens“, Magdeburger Stadtbaurat geworden war, kritisierte er in einer Denkschrift über die Kunstgewerbeschule deren Lehrprogramm in einer offenbar für Bosselt persönlich verletzenden Weise. Der Bildhauer verließ bald darauf Magdeburg. Die so verschiedenen Männer sind sich in der Stadt ziemlich nahe gekommen. Taut hatte von 1913 bis 1921 die architektonische Gesamtplanung der Gartenstadt-Kolonie Reform übernommen, die unmittelbar an die Krupp-Gruson-Werkssiedlung und den späteren Standort der Bosselt-Plastik angrenzt. Seit 1973 gehören beide Siedlungen zur Wohnungsgenossenschaft GWG Reform. In einem Buch der Kunstwissenschaftlerin Vera Losse über Rudolf Bosselt fand Michael Sachsenweger tatsächlich die gesuchte Plastik. Oder jedenfalls fast. Das Bild zeigt das Figurenpaar, allerdings fehlt die Rückenplatte des steinernen Originals. Es handelt sich um ein Gipsmodell, das 1906 auf der 3. Deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden gezeigt worden war und den Namen „Geplauder“ trägt sowie den Vermerk der Buchautorin: „Verbleib unbekannt.“

Protzen- oder doch lieber Barbaraplatz?

Zwischen diesem Modell und der mit Sicherheit darauf basierenden Steinausführung liegen etwa eineinhalb Jahrzehnte. Dass als Name nicht „Geplauder“ überliefert worden war, erklärte sich Michael Sachsenweger zunächst damit, dass die Siedlungsbewohner die Plastik rein praktischerweise nach ihrem Standort „Barbaraplatz“ (der diesen Namen übrigens offiziell nie bekam) bezeichneten. Doch inzwischen ist sich der Grafikdesigner sicher, dass es sich doch um den richtigen Namen handeln könnte. Zum einen ist Barbara, die von der Kirche heilig gesprochene Märtyrerin, nicht nur Schutzpatronin der Bergleute, sondern – das ist weniger bekannt - auch die der Artillerie. Und die Siedlungshäuser stehen auf einem ehemaligen Militärgelände, auf dem die am Fort II an der Leipziger Chaussee stationierte Artillerie ihre Geschützanhänger abstellte. Die nannte man Protzen. Michael Sachsenweger: „Der Protzenplatz hat der Siedlung, wo ja die bessergestellten Ingenieure von Krupp wohnten, dann auch den doppeldeutigen Namen Protzenheim eingebracht.“ Artillerie, Schutzheilige Barbara, Krupp, Plastik – da könnte es einen Zusammenhang geben. Außerdem machte Ines Sachsenweger kürzlich eine verblüffende Entdeckung: In einer Broschüre über Bosselt, der ihn als einen Erneuerer der deutschen Medaillenkunst vorstellt, sah sie eine Hochzeitsplakette Bosselts von 1906/1907 für die Krupp-Tochter Barbara. Die Ähnlichkeit der Gesichtszüge mit denen der steinernen Mutterfigur in der Krupp-Gruson-Siedlung lässt sich nicht übersehen. Absicht oder Zufall, ist die Ähnlichkeit nur eine Folge des Zeitgeschmacks und idealisierten Frauenporträtstils der Jugendstil-Künstler - oder verrät sie beflissene Absicht des Bildhauers gegenüber seinem vermutlichen Auftraggeber? „Bis zur letzten Wahrheit wird man die Geschichte der Barbara-Plastik wohl nie erfahren“, meint Sachsenweger. Doch dank seiner zähen Recherchen ist das Kunstwerk wieder ins Bewusstsein der Menschen gerückt, deren Wohnumfeld sie geschmückt hat. Diesen Wert erkennt auch die GWG Reform an und lässt die „Heilige Barbara“ jetzt ein zweites Mal entstehen. Die Wohnungsgenossenschaft wird zum Mäzen, unter Verzicht auf Fremdförderung und große Gesten. GWG-Vorstandsvorsitzender Detlef Gissendorf vertritt da eine klare Meinung: „So etwas wie die Barbara hat doch nicht jeder. Die Skulptur war ein gewisser Mittelpunkt dieses Siedlungsteils. Wenn wir uns bemühen, die Häuser und Wohnumfeld schrittweise zu erneuern, gehört dieses Kunstwerk einfach dazu.“ Außerdem seien die „Barbara“ und ihr Schöpfer Bosselt Teil der Magdeburger Stadtgeschichte. Einstweilen ist die Figurengruppe vom Platz verschwunden. Sie steht in der Werkstatt der Genossenschaft, wo der Bildhauer Bernd Morgenroth zurzeit an einem originaltreuen Gipsmodell für eine Replik arbeitet. Der 53-jährige Künstler, seit drei Jahrzehnten in Magdeburg und seit 1994 in Wolmirstedt ansässig, hat als gelernter Restaurationsbildhauer an einer Reihe historischer Bauwerke in der Region seine Spuren hinterlassen, zum Beispiel am erneuerten „Löwentor“ am Lustgarten von Schloss Wernigerode. In Magdeburg schuf Morgenroth alias Paul Ghandi unter anderem Plastiken für die Pfeifferschen Stiftungen. Im kommenden Sommer begeht die Gartenstadt Reform ihren 100. Geburtstag. Ein schöner Anlass, meint GWG-Chef Gissendorf, zu diesem Termin die geheimnisumwitterte „Heilige Barbara“ wieder buchstäblich auferstehen zu lassen.