„Wer eine Not erblickt und wartet, bis er um Hilfe gebeten wird, ist ebenso schlecht, als ob er sie verweigert hätte.“
Dante Alighieri
Liebe Nachbarn,
wir leben in herausfordernden Zeiten...
Kaum ist die große Pandemie halbwegs überstanden, wenn auch nicht bewältigt, wird Europa und damit auch der Barbaraplatz überschattet von einem Krieg.
Am 23. Februar 2022 erklärt Putin den Beginn seiner sogenannten "militärischen Spezialoperation" und greift die Ukraine an.
Es folgt großflächige Zerstörung, Mariupol und Bachmut liegen in Schutt und Asche. Das Massaker von Butscha brennt sich mit allen grausamen Bildern in das internationale Gedächtnis.
Zehntausende Menschen verlieren ihr Leben.
Die Preise für Lebensmittel und Energie steigen weltweit, mehrere Staaten geraten in ernste Wirtschaftskrisen.
Die drittgrößte Fluchtbewegung aller Zeiten in Europa nach den beiden Weltkriegen setzt ein.
13,7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben nach Angaben der UNHCR seit Kriegsbeginn ihr Land verlassen, 6,3 Millionen Menschen sind in die europäischen Nachbarstaaten geflüchtet.
Drei von ihnen fanden ein vorübergehendes Zuhause in der Gruson-Bamtensiedlung in Reform, Magdeburg.
Das ist ihre Geschichte.
Vova und Katya
Kurz nach Kriegsausbruch erfährt Familie Rößler über einen Bekannten, der auf der Suche nach Verbandsmaterial für das Kriegsgebiet ist, von der Notlage zweier Kinder: Volodymyr und Kateryna. Sie sind gerade 15 und 18 Jahre alt, ihre Eltern arbeiten als Ärzte in Kiew.
Am 9. März kam die Anfrage: Könnt Ihr die beiden aufnehmen? Nicht nur für Anke, auch für ihren Mann Thomas war klar: Können wir, wollen wir.
Wenige Tage später kamen die Kinder über einen eigens organisierten Transport an.
Die erste Begegnung?
"Eiskalte Gesichter", sagt Anke Rößler. Freundlich, aber distanziert seien die beiden gewesen. Sehr vorsichtig.
"Wir hatten für jeden ein extra Zimmer vorbereitet", erinnert sich Anke, "aber die zwei wollten zusammenbleiben."
Aber das Eis bricht. Es sind die kleinen Dinge, die den beiden schnell zeigen, dass sie sicher und in guten Händen sind. Ein liebevoll zusammengestellter Korb mit Süßigkeiten und den wichtigsten Utensilien als Willkommensgruß. Ein Frühstück am nächsten Morgen, mit frischen Brötchen und Eiern.
"Da kamen sie die Treppe runter, in die Küche und haben uns angestrahlt", erzählt Anke. "Ich glaube, da wussten sie: Sie haben Glück gehabt."
Tische, um die Menschen sitzen
Leicht würde es dennoch nicht werden in den kommenden Wochen. Zunächst war da die Sprachbarriere: "Meine rudimentären Schulenglisch-Reste reichten kaum für eine Verständigung. Und Ukrainisch spreche ich nicht", erzählt Anke lachend. Da ist sie zwangsläufig über sich selbst hinausgewachsen: Fast ein Jahr lang hat sie Abend für Abend ihre Englischlektionen am Handy, Abends am Küchentisch, absolviert.
Überhaupt, so ein Tisch: Das ist der Platz, an dem Menschen sich finden.
Sie finden sich zunächst, um das Organisatorische zu klären, und das war wirklich herausfordernd. "Nach den ersten 13 Wochen war ich fertig", erinnert sich Anke. Jeden Tag nach der Arbeit kochen, Jobcenter, Schule, Mails mit den Lehrern - das war wirklich herausfordernd und manchmal schlimm.
Aber: Die Arbeitskollegen bemerken nicht nur die Erschöpfung. "Wenn du von den beiden erzählst, strahlen deine Augen!", sagen sie zu Anke.
Tränen gibt es trotzdem: Nach 13 Wochen ist Vova erschöpft, niedergeschlagen, depressiv. Er vermisst seine Eltern, kommt nicht an. Ein harter Moment, den traumatisierten Jungen wieder gehen lassen zu müssen. Aber das Beste für ihn.
"Katya hat geweint", erzählt Anke. "Sie hatte Angst, dass sie jetzt auch ausziehen muss." Eine unbegründete Sorge: "Natürlich haben wir ihr gesagt, dass sie so lange bleiben kann, bis sie richtig Deutsch spricht und alleine klarkommt."
Auch die Große hat mit ihren Herausforderungen zu kämpfen: Den Anschluss im in der Ukraine begonnenen Studium nicht zu verlieren. Die Trennung von ihrem Freund.
Zukunftsperspektiven
In einer solchen Ausnahmesituation muss man Kraft tanken. "Wir haben so viel Schönes miteinander erlebt", erinnert sich Anke. Die Familienausflüge, die Besuche am Meer, das gemeinsame Kochen - "und die Gerichte, die die beiden für uns gekocht haben", lacht Anke. "Also an Borschtsch komme ich nicht ran, das ist nicht meins!"
Aber bei Pelmini über die politische Lage zu sprechen, auch die Schattenseiten der Ukraine zu diskutieren - das gehörte für viele Monate zum Familienalltag der Rößlers.
Vova war im Sommer 2023 zu Besuch, mit den Eltern der beiden stehen Anke und Thomas bis heute in regem Kontakt.
Vova schließt jetzt die Schule ab, er hat schon einen Studienplatz an der Uni in Prag. Er muss die Ukraine verlassen, bevor er 18 Jahre alt wird, sonst muss er an die Front.
Katya macht gerade ihren Bachelor und hofft auf ein anschließendes Masterstudium. Im Mai 2023 ist sie in ihre eigene Wohnung gezogen.
Der Stolz ist Anke anzumerken, wenn sie von den beiden spricht.
A propos Stolz: Wie sieht es eigentlich aus mit den eigenen beiden Kindern, Linus und Merle? Merle wohnte ja noch zu Hause, als die beiden Ukrainer bei Rößlers einzogen.
"Für Merle war es oft nicht leicht", erinnert sich Anke. "Sie wollte ihre Mutter auch mal für sich haben."
Fazit: Ohne das Zutun aller und Zugeständnisse von allen Seiten wäre diese Hilfe nicht möglich gewesen. Geplant waren vier Wochen, am Ende sind ein Jahr und zwei Monate draus geworden.
Eine Unterstützung war auch die GWG Reform, die Untermiete wurde ganz problemlos geregelt, und auch sonst gab es viel Zuspruch und positives Feedback.
Das große Kompliment aber vielleicht ist jenes von Linus, der seinen Eltern diese Nachricht schickte: "Ich bin stolz auf euch!"
Zi Fáamelu
Im März klingelt in der Louis-Braille-Straße das Telefon.
Katharina ruft aus dem Ministerium an. Sie hat einen Fall auf den Tisch bekommen, für den es keine Lösung in der Verwaltung gibt.
Eine junge Frau aus der Ukraine ist, begleitet von einem Fernsehteam, in Leipzig gestrandet und niemand weiß, wie es weitergehen soll.
Sie kann in kein Aufnahmelager und auch in kein Frauenhaus, denn Zi ist als Junge geboren worden. In ihrem Pass steht noch der alte Geschlechtseintrag. Sie gehört einer sehr verletzlichen Gruppe von Menschen an, die besonderen Schutz benötigen.
"Schaffen wir das?", fragt Katharina. ""Selbstverständlich", sagt Andreas, und noch am selben Tag steht Zi vor der Tür, begleitet von einer Entourage aus Fernsehleuten.
"Das war schon bizarr", erinnert sich Andreas. "Überall Kameras, die Produktionsleute - das hat man nicht alle Tage!"
Was den beiden nicht bewusst war: In der Ukraine war Zi ein Star. Sie war Finalistin bei "The Voice of Ukraine", hat eine große Followerschaft bei Instagram - alles Dinge, die rund um den Barbaraplatz bislang keine Rolle gespielt haben.
"Wir haben einfach improvisiert", erinnert sich Andreas, "schnell das Gästezimmer vorbereitet und unser Großer, Theo, hat das Bad freigeräumt für unseren neuen Hausgast."
Zi Fáamelu in der Ukraine
In der Ukraine ist Zi als Singer-Songwriterin und aus dem Fernsehen bekannt. Im Alter von 17 Jahren erstürmte sie zunächst als androgyne Person Boris Aprel, später als Ziandzha das ukrainische Showgeschäft, absolvierte Tourneen in der Ukraine und in China.
Im Alter von 24 Jahren outete Zi sich schließlich als Transgender-Frau. In einem Land, das ausgesprochen transfeindlich ist, ein mutiger Schritt.
In ihrer gesamten Zeit im Showgeschäft kämpft Zi für die Rechte der LGBTQ+ Community und setzt ihre Stimme und Präsenz für die Sichtbarkeit der marginalisierten und diskriminierten Minderheiten.
In Kiew lebt Zi zurückgezogen, denn sie ist gezwungen, ihre Identität zu verbergen. Homo- und Transphobie sind in der ukrainischen Gesellschaft tief verankert. Präsident Selenskyj macht sich in seiner Zeit als Comedian über Zi lustig, spricht von ihr nur als "es" und findet es amüsant, öffentlich darüber zu sinnieren, ob Zi öffentliche Toiletten im stehen oder sitzen benutzt. Auch das gehört zur ukrainischen Wahrheit dieser Zeit.
Ausbruch des Krieges
Mit Ausbruch des Krieges marodieren Gruppen von transphoben Menschen durch die Straßen, schikanieren und bedrohen Menschen, die "anders" sind. Schusswaffengebrauch wird nicht mehr kontrolliert, es ist ein rechtsfreier Raum, in dem Zi nun überleben muss.
Notgedrungen macht sich Zi auf die Flucht, denn sie wird in den Kriegsdienst gezwungen werden, da sie laut Passeintrag ein Mann ist. Es ist in dieser Zeit nahezu unmöglich, ohne weitreichende Schäden den Geschlechtseintrag in der Ukraine ändern lassen zu können.
Mit den ersten Bomben, die fallen, ist Zi isoliert, ihr Unterstützernetzwerk bricht zusammen, Chaos bricht aus, die Bedrohung wird immer größer.
Durch einen Hilferuf in den Social Media wird die Presse auf sie aufmerksam.
Abenteuerliche Flucht
Das Problem ist: Zi ist kein Mann und trotzdem zum Bleiben gezwungen. Der männliche Geschlechtseintrag in ihrem Pass macht das Passieren der Grenzen unmöglich.
Ihr Ausweis wird an den Grenzübergängen abfotografiert, weitergereicht. Es ist kein Durchkommen.
Erst mithilfe eines Helfers, der durch ihren Hilferuf und ein deutsches Fernsehteam Kontakt zu ihr aufnimmt, überwindet Zi die die Grenze.
"Kannst du schwimmen?", wird sie gefragt, als das Militär ihr auf den Fersen ist, und sie kann: Sie überwindet den Grenzfluss nach Rumänien, wie, weiß sie im Nachhinein selbst nicht mehr.
Aus dem Flüchtlingsheim wird sie nach Deutschland gebracht, begleitet von dem Fernsehteam.
Und landet schlussendlich in Magdeburg: Krank von den Strapazen und der Kälte des Wassers, traumatisiert und zutiefst verängstigt.
Die ersten Schritte in Deutschland
"Es war schon herausfordernd", erinnert sich Andreas. "Die ganze Logistik: Die Registrierung, die Krankenkasse, dazu die Kinder im Alltag und immerzu die Presse: Ein Irrenhaus streckenweise."
Gut, zu spüren, dass es so viele liebevolle Hilfsangebote gegeben hat. Die Ärztin Biggi Berge, die sich Zi angeschaut und ihr durch die Erschöpfung und den fiesen Husten und Schnupfen der ersten Tage geholfen hat. Die beiden Jungs vom Friseursalon Schönheitswahn in Magdeburg, die mit einer neuen Frisur ausgeholfen haben.
Überhaupt, die Schönheit: "Zi kam hier an mit einem Sammelsurium von Klamotten aus dem Altkleidercontainer. Das war alles Plunder, nichts passte", erinnert sich Katharina. Aber einkaufen für eine 1,88 Meter Frau ist auch hier nicht leicht. Aber wenn es leicht wäre, könnte es ja jeder! In Notsituationen geht es darum, Lösungen zu finden.
"Ich war beeindruckt von dem Engagement der Verwaltung in Magdeburg", erinnert sich Andreas. "Alle waren sehr bemüht und sind wirklich über sich hinausgewachsen."
Die Begegnung mit einem freiwilligen Helfer, einem Russischlehrer, der gemeinsam mit jungen Studierenden der Magdeburger Universität als Übersetzer arbeitete, sind ihm im Gedächtnis geblieben.
Immer dabei: Die internationale Presse
Ganz besonders herausfordernd ist für die Familie das mediale Interesse.
"Das war vollkommen irre", erinnert sich Andreas, "ständig war ein Fernsehteam im Haus oder ein Reporter von den Nachrichtenmagazinen, die wir sonst morgens beim Frühstück lesen."
Wichtig für die Familie: Alle zu schützen. "Wir wollten nicht, dass eines Tages irgendwelche Verrückten mit Fackeln und Mistgabeln bei uns im Vorgarten stehen."
Also gilt die Regel: Keine Adressen, konkreten Angaben, maximaler Schutz für alle Beteiligten.
"Deswegen gehen wir auch jetzt erst mit der Geschichte an die Öffentlichkeit", sagt Andreas. Das einzige Zugeständnis von ihm und Katharina: Der ZDF-Beitrag, um den Zi gebeten hatte. Ansonsten gehen die beiden nicht vor die Kameras.
Zeit für private Momente
Gab es auch Zeit für Familienleben?
"Familienleben war schon vor Zi relativ", lacht Andreas, "das ist ein offenes Haus und bei uns ist immer was los! Borschtsch hat Zi nicht gekocht, aber einmal Kohl kleingeschnitten für irgendeinen Pressebeitrag."
"Zusammengesessen haben wir dennoch", erinnert sich Katharina, "und miteinander erzählt, gegessen, Quatsch gemacht. Ich habe eine neue Frisur von ihr verpasst bekommen!"
"Zi ist eine erwachsene Person, das darf man nicht vergessen", erinnert Andreas. "Nach mehr als einem halben Jahr war es Zeit, dass sie ihren eigenen Raum bekommt."
Die Wohnungssuche gestaltet sich wieder einmal als herausfordernd. Auch hier sind wieder viele gute Geister erforderlich, unter anderem eine zauberhafte und kompetente Immobilienmaklerin und eine entgegenkommende Hausverwaltung Hohmann, die mit Rat und Tat zur Seite standen.
Zukunftsausblicke
"Ich glaube, alle hoffen auf ein Ende dieses Krieges.", sagt Andreas.
Ein Zurück in die Ukraine gibt es für Zi dennoch nicht, mit diesem Kapitel ihres Lebens hat sie abgeschlossen.
Vorerst bleibt sie in Magdeburg, macht bald ihren Abschluss im Sprachkurs.
"Nicht einfach!", sagt sie, und lacht.
In ihrer Wohnung, die sie im Oktober 2022 bezogen hat, fühlt sie sich wohl. Was kommen wird?
Frieden, hofft sie. Nicht nur für die Ukraine, sondern für alle Menschen auf der Welt.
"Egal, wie sie geboren wurden, welche Farben sie tragen, unter welcher Flagge sie ihren Weg gehen."